Prolog

 

17. Januar 2016

 

 

Trotz des am Himmel thronenden Vollmondes, hatte ich große Schwierigkeiten mich zurechtzufinden. Das kalte Licht des Erdtrabanten schien zwar mühelos durch die kahlen Baumkronen hindurch und erhellte den vor mir liegenden Untergrund, aber das Alkohol-Adrenalin-Gemisch in meinem Blut machte es mir unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Mein linker Knöchel schmerzte bei jedem Auftreten und ich konnte nicht ausschließen, mir vielleicht sogar etwas gebrochen zu haben. Immerhin war ich, aus schätzungsweise zehn Metern Höhe, auf den Boden aufgeschlagen und konnte nur von Glück sprechen, dass ich mir anscheinend keine schlimmeren Verletzungen zugezogen hatte.

 

Hektisch schaute ich mich um und versuchte den kürzesten Weg zurück zum Parkplatz auszumachen. Mein Verfolger hatte sich auch schon längst auf den Weg zurück zum Erdboden gemacht und würde sicherlich sofort wieder Jagd auf mich machen, sobald auch er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Ich war mir absolut sicher, dass er alles daransetzen würde, um seinen perfiden Plan endlich zu vollenden. Auch wenn seine bisherigen Mordversuche gescheitert waren, dieses Mal würde er es zu Ende bringen müssen. Schließlich hatte er mir gerade nicht nur gestanden, dass er bereits zweimal versucht hatte, mich umzubringen, sondern hatte mir auch noch gleich sein Motiv hierfür erläutert. Es blieb ihm also gar keine andere Wahl – er musste mich jetzt sofort töten.

 

Mein Puls raste, mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb und in meinem Kopf schien ein Presslufthammer gegen meine Schädeldecke zu donnern.

 

In welcher Richtung liegt nur dieser verdammte Parkplatz?, überlegte ich verzweifelt, drehte mich dabei um die eigene Achse, verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden.

 

Ich versuchte, um Hilfe zu schreien, aber aus meinem Mund kam nur ein krächzendes Röcheln.

 

Ich kann nicht einmal um Hilfe rufen!, stellte ich resigniert fest und spielte für einen Sekundenbruchteil mit dem Gedanken, einfach liegen zu bleiben und auf ihn zu warten.

 

Doch im selben Moment meldete sich mein Überlebensinstinkt zurück, packte mich unter den Armen und half mir wieder auf die Beine. So schnell es mein lädierter Fuß zuließ, humpelte ich in die Richtung, in der ich den Parkplatz vermutete. Von dort aus waren es schätzungsweise noch fünfhundert Meter bis zur Landstraße und zu den daran angrenzenden Wohnhäusern. Ich müsste irgendwie vor ihm dort ankommen und darauf hoffen, dass noch irgendjemand zu dieser nächtlichen Stunde wach sein und mir Zuflucht gewähren würde. 

 

In leichten Schlangenlinien torkelte ich weiter auf das rettende Ziel zu.

 

Hätte ich doch nur nicht so viel getrunken!

 

Endlich schien sich der Irrgarten aus Bäumen zu lichten, und vor mir tauchte tatsächlich der erhoffte Parkplatz auf. Direkt am Waldeingang parkte ein dunkler Kombi.

 

War der auch schon da, als wir in den Wald hineingegangen sind?, fragte ich mich, verwarf den Gedanken aber sofort wieder und humpelte weiter Richtung Landstraße.

 

Hinter mir hörte ich plötzlich ein lautes Keuchen. Ich drehte mich um und sah meinem Verfolger direkt in die Augen. Er war nur noch wenige Meter hinter mir. Ich richtete meinen Blick nach vorne und versuchte, noch schneller zu laufen, als ich es ohnehin schon tat. Aber ich musste mir doch eingestehen, dass ich mit meinem lädierten Knöchel keine Chance haben würde, den angepeilten Zufluchtsort vor ihm zu erreichen.

 

Ich blieb daher stehen, drehte mich um und war fest entschlossen, mein Leben nicht kampflos herzuschenken. Bei seinen bisherigen Tötungsversuchen hatte er penibel darauf geachtet, dass hinterher keinerlei Verbindung zu ihm hergestellt werden konnte. Falls sein finaler Anschlag jetzt doch den gewünschten Erfolg bringen sollte, würde ich wenigstens dafür sorgen, dass man seine DNA an meiner Leiche finden würde.

 

Ich kniff die Augen zusammen und sah zu, wie er sich mir mit großer Geschwindigkeit näherte. In seiner rechten Hand hielt er das große Küchenmesser, mit dem er mich schon auf der Kletteranlage bedroht hatte.

 

Ich muss ihm irgendwie das Messer abnehmen!, war mein letzter Gedanke, bevor er mich mit voller Wucht zu Boden riss.

 

1. Kapitel

 

Gute Vorsätze

 

1. Januar 2016

 

 

Ich saß an meinem Schreibtisch und starrte auf den Monitor. Mein acht Jahre alter Laptop brauchte mal wieder eine Ewigkeit, bis er alle seine Systeme hochgefahren hatte, und ich entschied in genau diesem Moment, mir endlich einen neuen PC zuzulegen. Neben meinem Kaffeebecher lag ein handgeschriebener Zettel, der die Überschrift „Gute Vorsätze 2016“ trug. Ich nahm meinen Kugelschreiber zur Hand und ergänzte die Liste um einen weiteren Punkt.

 

Während ich weiter auf die vollständige Einsatzfähigkeit meines Computers wartete, nahm ich den Zettel zur Hand und las mir selber vor, was ich bisher darauf geschrieben hatte:

 

1. Fünf Kilogramm abnehmen!

 

2. Eine neue Wohnung suchen!

 

3. Mich wieder verlieben!

 

4. Endlich einen neuen Laptop kaufen!

 

Ich legte den Zettel zurück auf die Arbeitsfläche und griff nach meinem Kaffeebecher. Eigentlich mochte ich diese schwarze Brühe ja überhaupt nicht, aber nach der gestrigen Nacht brauchte ich einfach eine ordentliche Dosis Koffein, um diesen Tag irgendwie zu überstehen.

 

Ich war mit meinem besten Freund und seiner Frau auf der Classic Rock Silvesterparty im Pumpwerk, einem historischen Industriegebäude in Wilhelmshaven, das seit Mitte der Siebzigerjahre als Veranstaltungsort für allerlei Unterhaltungsveranstaltungen genutzt wird. Bis um Mitternacht hatten wir viel Spaß zusammen, haben gelacht, getanzt und laut mitgesungen. Doch nach dem Jahreswechsel kippte meine Stimmung schlagartig. Es war schwer, mit anzusehen, wie sich Jan und Katja plötzlich in den Armen lagen, sich küssten und verliebte Blicke austauschten. Selbstverständlich gönnte ich den beiden ihr Glück, aber es machte mir auch schmerzlich bewusst, was ich selbst verloren hatte.

 

Meine Scheidung lag jetzt 4 Monate zurück. Ein Jahr zuvor hatten Nele und ich uns voneinander getrennt. Wir kannten uns bereits seit der 7. Klasse. Nele musste damals mit ihren Eltern nach Wilhelmshaven ziehen, weil ihr Vater – ein hohes Tier bei der Marine – hierher versetzt worden war. Ich war gleich vom ersten Tag an total in sie verschossen, aber sie schien mich überhaupt nicht wahrzunehmen. Erst eine Projektarbeit im Sozialkundeunterricht brachte uns beide näher zusammen, und nur wenige Wochen später waren wir endlich ein Paar.

 

Nele war meine erste und bis heute einzige Freundin. Mit 25 haben wir schließlich geheiratet, mit 27 kauften wir uns ein Grundstück in Sande und bauten unser kleines Traumhaus darauf. Niemals hätte ich damals gedacht, dass ich – nur fünf Jahre später – als geschiedener Mann hier sitzen würde.

 

Unsere Probleme begannen bereits kurz nach dem Einzug. Wir wollten unsere Liebe mit einem gemeinsamen Kind krönen und machten uns sofort engagiert an die Umsetzung. Doch die anfängliche Euphorie wich schnell einer lähmenden Ernüchterung, denn auch 15 Monate nach unserem ersten Versuch blieb das gewünschte Ergebnis immer noch aus. Mit jedem weiteren Monat, der verging, wurde Nele trauriger und trauriger. Ihr Lächeln, in das ich mich so sehr verliebt hatte, sah ich zu dieser Zeit nur noch selten. Stattdessen stritten wir immer häufiger wegen irgendwelcher Lappalien oder hatten uns einfach nichts mehr zu sagen.

 

Trotz unserer damaligen Krise stellten wir aber unseren Kinderwunsch nie infrage. Wahrscheinlich hofften wir beide, dass die Ursache unserer Probleme gleichzeitig auch deren Lösung sein musste. Nachdem unsere Ärzte uns bestätigt hatten, dass es keine medizinischen Gründe für unseren ausbleibenden Kindersegen gab, verfielen wir in eine Art Aktionismus und nutzten schließlich jede sich uns bietende Gelegenheit, um miteinander zu schlafen.  Leider blieb der ersehnte Erfolg aber weiterhin aus und die schönste Nebensache der Welt verkam für uns immer mehr zu einer lästigen Pflicht. In den letzten Monaten vor unserer Trennung kam es höchstens dann noch mal zum Geschlechtsverkehr, wenn wir uns zuvor mal wieder so richtig heftig und vollkommen grundlos gestritten hatten.

 

Am Ende lebten wir einfach nur noch nebeneinander her. Keiner von uns machte dem anderen einen Vorwurf. Im Gegenteil – unser Babywunsch war einfach kein Gesprächsthema mehr zwischen uns. Selbst in meinen Gedanken spielte es am Ende keine Rolle mehr, da ich viel zu sehr damit beschäftigt war, mich einfach nur unglücklich zu fühlen. Wahrscheinlich ging es Nele damals genauso, und nach einem langen, ruhigen und sehr sachlichen Gespräch beschlossen wir schließlich, uns zu trennen.      

 

Nele blieb noch so lange in unserem gemeinsamen Haus wohnen, bis wir endlich einen Käufer gefunden hatten. Wir hatten einen recht hohen Preis für unser Objekt veranschlagt, um aus dem Verkaufserlös auf jeden Fall sämtliche Forderungen der finanzierenden Bank erfüllen zu können. Dementsprechend dauerte es eine ganze Weile, bis wir endlich über das Internet einen Käufer aus dem Ruhrgebiet gefunden hatten.

 

Ich hingegen suchte mir eine kleine praktische Wohnung in Wilhelmshaven und zog bereits drei Tage nach unserer beschlossenen Trennung dort ein. Die Wohnung war zwar sehr klein, lag aber in direkter Nähe zu meinem Arbeitsplatz, hatte einen eigenen Stellplatz für mein Auto und die monatliche Miete war so gering, dass ich sie mir trotz der weiterlaufenden Kreditverpflichtungen für unser Haus leisten konnte. Außerdem war sie neu renoviert und sofort verfügbar, sodass ich, ohne lange nachzudenken, den Mietvertrag unterschrieb. Erst später realisierte ich, dass das Wohnen direkt neben der vierspurigen Peterstraße, nicht das war, was ich mir eigentlich vorgestellt hatte. Der Lärm der vorbeifahrenden Autos raubte mir tagsüber die Konzentration und kostete mich nachts gelegentlich den erholsamen Schlaf.

 

Nachdem Jan und Katja sich gegen zwei Uhr von mir verabschiedet hatten, blieb ich noch alleine auf der Silvesterparty zurück und steuerte direkt auf den nächsten Getränkeausschank zu. Da alle Getränke im Eintrittspreis enthalten waren, bestellte ich gleich sieben Whiskey-Cola.

 

»Die sind für mich und meine Freunde!«, log ich den unfreundlichen Kerl hinter der Theke an, nachdem er sich zunächst geweigert hatte, mir die sieben Getränke auf einmal auszuhändigen.

 

»Aha«, brummte er mich an und betrachtete mich skeptisch.

 

»Ich kann sie auch alle herholen, wenn Ihnen das lieber ist!«, legte ich noch einen drauf und blickte mich verständnislos zu den Leuten um, die hinter mir in der Schlange standen.

 

»Ist ja schon gut!«, gab er schließlich nach, drehte sich zu den Flaschen um, die hinter ihm auf einem kleinen Tisch standen, und mixte mir endlich meine Bestellung.

 

Mit einem Tablett voller Gläser stolzierte ich schließlich an den hinter mir Wartenden vorbei und suchte mir einen freien Platz, der möglichst weit weg von dem Getränkeausschank und allen übrigen Gästen war.

 

Das Nächste, woran ich mich erinnern konnte, war, wie ich heute Mittag in meinem Bett aufgewacht bin. In meinem Kopf hämmerte ein Presslufthammer und mein Magen schien Achterbahn zu fahren. Wie ich hierhergekommen war und was ich in den Stunden zuvor gemacht hatte, wusste ich nicht mehr. Ich hatte einen absoluten Filmriss. So etwas war mir früher nie passiert, was vermutlich daran lag, dass Nele immer darauf geachtet hatte, dass ich mein Alkohollimit nicht überschritt.

 

Mühsam quälte ich mich aus dem Bett, ging zur Toilette und schleppte mich danach unter die Dusche. Das warme Wasser tat gut und half mir, mich wieder etwas menschlicher zu fühlen. Eine Aspirin, ein trockenes Brötchen und drei Stunden auf meinem Sofa taten schließlich ihr Übriges, damit ich es überhaupt bis hier an meinen Schreibtisch geschafft habe.

 

Wieder nahm ich einen Schluck aus meinem Kaffeebecher und schaute auf die vor mir liegende Liste.

 

Fünf Kilogramm abnehmen! Damit fange ich lieber morgen an. In meinem Zustand würde ich wahrscheinlich tot zusammenbrechen, wenn ich mich heute noch auf meine Joggingstrecke wagen würde, dachte ich und lenkte meine Augen auf den nächsten Punkt meiner guten Vorsätze.

 

Eine neue Wohnung suchen! Ja, das sollte machbar sein!

 

Ich war erleichtert, dass ich trotz meines angeschlagenen Zustandes bereits heute mit der Umsetzung meiner Vorsätze beginnen konnte.

 

Ich öffnete meinen Internetbrowser und gab den Suchbegriff Mietwohnungen Wilhelmshaven ein. Meine Suche ergab mehr als 40.000 Treffer. Ich entschied mich für das Ergebnis ganz oben auf der Liste und landete schließlich auf der Seite des ortsansässigen Bauvereines. Der Internetauftritt war nüchtern, aber dafür auch sehr übersichtlich gegliedert. Während ich mit dem Mauszeiger über den Menüpunkt Mietwohnungen fuhr, öffnete sich ein Untermenü, in dem ich die Anzahl der gewünschten Zimmer vorgeben konnte.

 

Wie viele Zimmer brauche ich denn?, fragte ich mich und sortierte in Gedanken meinen Hausrat.

 

Meine jetzige Wohnung hatte nur zwei sehr kleine Zimmer.

 

Wenn die Zimmer in der neuen Wohnung etwas größer wären, würde das wahrscheinlich schon ausreichen, dachte ich.

 

Dabei fiel mein Blick plötzlich auf den dritten Punkt der vor mir liegenden Liste.

 

Und wenn ich jetzt eine neue Partnerin finde? Da reichen doch zwei Zimmer niemals aus. Dann müsste ich ja gleich wieder umziehen!, überlegte ich und klickte mit der Maus auf den Menüpunkt Drei-Zimmer.

 

Eine neue Seite baute sich auf dem Monitor auf. Ich scrollte die Liste der verfügbaren Wohnungen herunter, bis ich schließlich ein Objekt gefunden hatte, das ein gutes Verhältnis aus Wohnfläche, Lage und Mietpreis bot und zudem auch noch ansprechend aussah. Über einen kleinen Pfeil – rechts neben dem Objektfoto – konnte man in die Details verzweigen. Ich klickte darauf und ein ausführliches Exposé der Wohnung erschien auf dem Bildschirm. Euphorisch klickte ich mich durch die einzelnen Fotos und war durchweg begeistert.

 

Ob ich vielleicht bereits heute einen Punkt meiner Liste abhaken kann?

 

Das vierte von insgesamt zwölf Bildern zeigte den Grundriss der Wohnung. Neben Küche und Bad, hatte sie ein Schlafzimmer, ein großes Wohnzimmer und ein Kinderzimmer zu bieten.

 

Aus dem Kinderzimmer mache ich dann einfach mein Büro!, beschloss ich kurzerhand und wollte bereits zum nächsten Foto klicken, als mich plötzlich ein unangenehmes Gefühl überkam.

 

Was ist, wenn meine neue Partnerin schon ein Kind hat oder sich noch ein Kind von mir wünscht? Und wenn sie schon ein Kind haben sollte, dann hat sie doch sicher schon selber eine Wohnung, die ganz auf die Bedürfnisse einer Familie abgestimmt ist.

 

Plötzlich kreisten meine Gedanken nur noch darum, wie ich die ideale Wohnung für eine Familie finden konnte, obwohl ich doch noch nicht einmal eine passende Frau gefunden hatte. In all den Monaten, in denen Nele und ich vergeblich versucht hatten, Nachwuchs zu bekommen, hatte ich nicht ein einziges Mal darüber nachgedacht, dass sich dieser Traum eventuell mit einer anderen Partnerin realisieren lassen könnte. Selbst in den Monaten nach unserer Trennung war mir ein solcher Gedanke nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen. Ich hatte zwar hin und wieder darüber nachgedacht, wie meine Zukunft mit einer anderen Frau aussehen könnte, aber ein Kind hatte bei diesen gedanklichen Zeitreisen niemals eine Rolle gespielt. Dabei war ich doch erst 32 Jahre alt. Ich würde zwar sicherlich kein junger Vater mehr sein, aber ich kannte dutzende Männer aus meinem weiteren Bekanntenkreis, die noch deutlich später die Freuden einer Vaterschaft erleben durften.

 

Das unangenehme Gefühl war plötzlich verflogen, hatte sich in Luft aufgelöst und war einem Traum gewichen, den ich bereits in den Tiefen meines Unterbewusstseins zu Grabe getragen hatte. Ich war auf einmal so aufgeregt, als würde ich bereits im Kreißsaal sitzen und auf die Niederkunft meiner Traumfrau warten.

 

Ich schmiss alle bisherigen Überlegungen über den Haufen, um meine Prioritäten kurzerhand neu zu ordnen. Ich entschied, die Wohnungssuche ruhen zu lassen, bis ich eine neue Partnerin gefunden hatte, mit der ich dann die Wohnungsfrage gemeinsam besprechen konnte.

 

Mir war zwar bewusst, dass ein paar Kilogramm weniger meine Partnersuche sicherlich erleichtern könnten, aber ich beschloss trotzdem, sofort damit zu beginnen.

 

Ich werde ja vermutlich nicht gleich am ersten Tag fündig werden, beruhigte ich meine Bedenken, meine Traumfrau könnte mich allein wegen meines kleinen Bäuchleins abweisen.

 

Erneut öffnete ich die Suchmaschine und tippte diesmal den Begriff Partnerbörse in die Tastatur. Die Suche lieferte 598.000 Treffer. Ich scrollte die Liste herunter, bis ich auf eine Partnervermittlung traf, die ich bereits aus der Fernsehwerbung kannte. Neugierig klickte ich auf den blau hinterlegten Link. Auf der Startseite begrüßte mich eine hübsche Frau mit schulterlangen blonden Haaren und fragte mich nach meinem Geschlecht und nach dem Geschlecht, an dem ich interessiert sei. Nachdem ich die beiden notwendigen Felder ausgefüllt hatte, öffneten sich zwei weitere Eingabefelder, in denen ich meine E-Mail-Adresse und ein Passwort eingeben sollte. Ich überlegte mir ein Passwort, trug meine E-Mail-Adresse ein und drückte auf den Button: Jetzt kostenlos anmelden.

 

Wenige Sekunden danach summte mein Handy.

 

Eine E-Mail von der Partnervermittlung! Das ging aber schnell!, dachte ich, öffnete die Nachricht und bestätigte den Aktivierungslink. 

 

Nach einer erneuten Anmeldung auf der Homepage der Partnervermittlung, wurde ich aufgefordert, einige Fragen zu meiner Persönlichkeit zu beantworten. Das Programm schätzte die Bearbeitungsdauer auf ca. 40 Minuten.

 

»Ach, nein«, stöhnte ich und rieb mir die schmerzenden Schläfen.

 

Meine Kopfschmerzen nahmen langsam wieder zu.

 

Vielleicht sollte ich mit den Fragen lieber warten, bis ich wieder vollkommen fit bin?, überlegte ich, konnte aber meine Neugierde letztlich nicht unterdrücken und begann sofort mit den ersten Fragen.

 

Nach einer Dreiviertelstunde hatte ich endlich alle Fragen beantwortet. Es war wirklich nicht einfach gewesen, sich immer richtig einzuschätzen und trotzdem bei der Wahrheit zu bleiben, aber ich wollte das Ergebnis schließlich auch nicht verfälschen und so blieb ich – bis auf wenige Ausnahmen – so ehrlich wie möglich.

 

Als Nächstes wurde ich aufgefordert, ein Profil anzulegen, meine Wünsche an eine Partnerschaft zu formulieren und ein Foto von mir hochzuladen. Ich fühlte mich wirklich nicht in der Verfassung für eine solch schwierige Aufgabe, aber ich wollte so kurz vor dem Ziel auch nicht aufgeben. Also mobilisierte ich meine letzten Energiereserven und gab mein Bestes, um meine Schokoladenseite zu präsentieren.

 

Die größte Herausforderung blieb natürlich die Suche nach einem passenden Foto, auf dem ich möglichst präsentabel aussah. Genervt durchforstete ich die Fotodateien auf meinem Laptop.

 

Da muss doch irgendein gutes Foto dabei sein!, fluchte ich innerlich.

 

Aber auf den meisten Bildern machte ich entweder irgendwelche blöden Grimassen oder ich sah einfach nur müde, abgekämpft oder unglücklich aus. Zufällig stieß ich auf ein altes Foto von Nele und mir. Es wurde auf der Hochzeit eines Arbeitskollegen aufgenommen und war mittlerweile schon vier Jahre alt. Nele trug ein eng anliegendes schwarzes Abendkleid, das ihre sportliche Figur exzellent betonte. Ihre dunkelblonden Haare hatte sie von einem Friseur zu einer schicken Hochsteckfrisur formen lassen und ihr dezentes Make-up unterstrich das Smaragdgrün ihrer Augen. Auf diesem Foto sah sie nicht nur unsagbar schön, sondern auch noch unendlich glücklich aus.

 

Was ist nur mit uns geschehen?, dachte ich wehmütig an diese schöne Zeit zurück und strich behutsam mit dem Zeigefinger über ihr Gesicht.

 

Ich schloss die Augen, atmete tief ein und versuchte, meine trüben Gedanken abzuschütteln. Ich wollte nicht mehr in der Vergangenheit leben, ich wollte endlich nach vorne blicken. Also öffnete ich mein Bildbearbeitungsprogramm, schnitt meinen Kopf und den Brustbereich aus dem Foto aus, optimierte das Material noch mit ein paar kleinen Mausklicks und lud das Ergebnis schließlich auf der Seite der Partnervermittlung hoch. Auch wenn ich auf dem Foto einige Jahre jünger war, fand ich nicht, dass ich mich sonderlich verändert hatte. Meine strohblonden Haare waren an den Seiten immer noch sehr kurz geschnitten. Die etwas längeren Kopfhaare hatte ich auch damals schon mit Haargel etwas zurechtgemacht. Tatsächlich hatte mein Gesicht ein paar Falten dazugewonnen. Besonders auf der Stirn und an den Augenrändern machten sich diese Alterszeichen bemerkbar. Unter meinen blauen Augen hatte sich eine größere Ansammlung von Sommersprossen gebildet. Da diese Pigmentstörung aber auch ansonsten meinen ganzen Körper bedeckte und sie sich daher sowieso nicht verstecken ließ, verzichtete ich darauf, sie mittels der Software verschwinden zu lassen.

 

Erleichtert lehnte ich mich in meinen Schreibtischstuhl zurück, verschränkte die Arme hinter meinem Kopf und prüfte meine fertige Profilseite. Ich war mit dem Ergebnis meiner Bemühungen wirklich zufrieden und klickte auf den Weiter-Button.

 

»Geschafft, schon bald können Sie attraktive Singles aus ganz Deutschland kennenlernen! Nutzen Sie unsere Premium-Mitgliedschaft und erhöhen Sie Ihre Chancen auf eine neue Liebe!«, las ich mir selber den Text vor, der jetzt auf dem Monitor stand.

 

Was soll das denn jetzt?

 

Ich war genervt. Ich wollte doch nur ein paar nette Frauen aus der Umgebung kennenlernen. Das konnte doch nicht so schwer sein. Voller Unlust studierte ich die Vorteile einer Premium-Mitgliedschaft und musste feststellen, dass eine echte Kontaktaufnahme ohne eine sogenannte Premium-Mitgliedschaft eigentlich unmöglich war. 240 Euro sollte ich für eine einjährige Mitgliedschaft bezahlen.

 

Und das soll auch noch ein Sonderpreis für neue Mitglieder sein?

 

Eigentlich widerstrebte es mir, für das Kennenlernen einer Frau Geld zu bezahlen, aber ich hatte jetzt schon so viel Zeit und Mühe investiert, dass ich meine Kreditkarte zückte, die Kartennummer eingab und die Abbuchung der Jahresgebühr per Mausklick autorisierte.

 

»Und wehe deine Vorschläge taugen nichts!«, drohte ich dem Computer mit erhobener Faust.

 

Ich brauche wirklich dringend eine neue Partnerin, wenn ich jetzt schon anfange, mit meinem Rechner zu reden.

 

Ich schaute auf den kleinen Radiowecker, der auf meinem Schreibtisch stand, und war überrascht, wie spät es schon war. Die Zeit war wie im Fluge vergangen und ich entschloss mich, erst morgen weiter an meinen guten Vorsätzen zu arbeiten. Zum Glück war ja morgen Samstag und ich musste daher nicht zur Arbeit. Es blieb mir also genug Zeit, um an meinem neuen, besseren Leben zu feilen.

 

Ich stand auf und ging hinüber in die Küche. In meinem Gefrierfach fand ich glücklicherweise noch eine Pizza Salami, entriss sie ihrer Verpackung und schob sie in den Backofen. Aus dem Kühlschrank griff ich mir eine Flasche Cola, erinnerte mich aber plötzlich an Punkt Eins meiner Liste und tauschte sie daher sofort gegen eine Flasche Mineralwasser aus. Während der Käse auf der Pizza langsam goldbraun wurde und sich gleichmäßig über den Teig verteilte, ging ich hinaus auf den Balkon, um meinen Meerschweinchen frischen Salat zu bringen und sie mit ein paar Kräckern zu füttern. Immer wenn ich mich besonders einsam fühlte, setzte ich mich zu ihnen nach draußen und fing dabei manchmal sogar an, mich mit ihnen zu unterhalten.          


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