Prolog: Freitag

 

Opferrolle

 

Marie lag auf dem Bett und starrte an die kahle, weiß gestrichene Decke. Ihre Augen waren von den zahllosen Tränen der vergangenen Stunden gerötet und mittlerweile so ausgetrocknet, dass sie immer wieder vergeblich versuchte, sich mit den Händen den Schmerz aus dem Gesicht zu wischen. Sie war jetzt schon seit fast einer Woche in diesem Keller eingesperrt und hatte kaum noch Hoffnung, in naher Zukunft aus ihrem Gefängnis entkommen zu können. Wenn sie überhaupt noch eine Chance hatte, dann nur dann, wenn sie es schaffen würde, sein Vertrauen zu gewinnen. Aber dafür würde sie sehr viel Geduld, Kraft und Selbstüberwindung benötigen. Sie musste eine gute Schauspielerin sein, ihn in Sicherheit wiegen und unentwegt auf einen Moment der Unachtsamkeit warten müssen. Doch sie fühlte sich so unendlich schwach und müde und hatte keine Ahnung, wie sie das alles schaffen sollte. Zudem war sie unglaublich traurig, dass sie heute, am Todestag ihrer geliebten Oma, nicht an ihrem Grab vorbeischauen konnte. Bei dem Gedanken an sie, schossen ihr erneut die Tränen in die Augen.

 

In den vergangenen Tagen hatte sie bereits mehrfach den ganzen Keller abgesucht, aber keinen einzigen Gegenstand mehr gefunden, der ihr helfen könnte, ihren körperlich überlegenen Entführer zu überwältigen. Die einzige Waffe, die sie jetzt noch hatte, waren ihre weiblichen Reize. Ihr waren seine verstohlenen Blicke auf ihren Körper natürlich nicht entgangen, wenn er gelegentlich vorbeikam, um sie hier unten zu besuchen oder ihr etwas zu Essen zu bringen. Sie war sich ihrer Wirkung auf Männer schon immer bewusst gewesen und hatte sie auch stets für sich zu nutzen gewusst. Mit ihren langen blonden Haaren, ihren großen grünen Augen und ihrem nahezu makellosen Körper, hatte sie schon so manchen Mann für sich gewinnen können.

 

Anfangs hatte sie befürchtet, dass er sie genau deshalb ausgesucht und verschleppt hatte. Aber nicht ein einziges Mal hatte er sie unsittlich berührt oder irgendeinen anderen Versuch der körperlichen Annäherung unternommen. Was wollte er nur von ihr? Entsprach die abstruse Geschichte, die er ihr erzählt hatte, etwa tatsächlich der Wahrheit? 

 

Langsam richtete Marie sich auf und schleppte sich in das kleine Badezimmer. Sie knipste das Licht des Spiegelschrankes an und betrachtete sich im Spiegel. Ihre geröteten Augen lagen in zwei tiefen schwarzen Höhlen. Ihre blonden Haare waren fettig und verknotet. So, wie sie jetzt aussah, würde sie sicherlich keine Chance haben, ihn für sich zu begeistern. Sie öffnete die linke Tür des Schränkchens und betrachtete die ansehnliche Auswahl an Kosmetikartikeln, die er extra für sie gekauft hatte. Bislang hatte sie aber noch keinen Gedanken daran verschwendet, sich für ihn zurecht zu machen. Als er ihr die Sachen übergeben hatte, hatte sie es zunächst sogar mit der Angst zu tun bekommen. Anfangs war Marie noch fest davon überzeugt gewesen, dass er sie nur verschleppt hatte, um sie als eine Art Sexsklavin zu halten. Aber auch aus reiner Sturheit hatte sie sich geweigert, sich für ihn herzurichten, indem sie duschte, sich schminkte oder gar die Klamotten anzog, die er für sie besorgt hatte. Er sollte keinesfalls das Gefühl bekommen, sie habe sich mit ihrer Situation bereits abgefunden.

 

Mit spitzen Fingern zog sie eine getönte Tagescreme und etwas Wimperntusche aus dem Regal und stellte beides auf dem Waschbeckenrand ab. Für den Anfang wollte sie es nicht übertreiben und sich wirklich nur ganz dezent schminken. Sie durfte ihn auf keinen Fall verschrecken, indem sie zu  forsch an die Sache heranging. Es würde Zeit brauchen, um ihm glaubhaft zu vermitteln, dass sie sich wirklich für ihn interessierte. Schließlich hatte sie vor ein paar Tagen noch zu fliehen versucht und ihn dabei sogar mit einem Messer bedroht. Und auch wenn ihr die Vorstellung unerträglich erschien, sie würde einen sehr langen Zeitraum einkalkulieren müssen, um wirklich sein Vertrauen zu gewinnen. Denn, wenn sie diese Chance vergab, würde sie für den Rest ihres Lebens hier unten festsitzen – da war sie sich absolut sicher.

 

Ein letztes Mal schaute Marie sich prüfend im Badezimmer um, dann zog sie langsam ihre vollkommen verschwitzten Sachen aus und stellte sich unter die Dusche. Das Wasser wurde sofort warm und war eine wahre Wohltat für ihren geschundenen, verschwitzten Körper. Sie legte ihren Kopf in den Nacken, ließ das Wasser über ihr Gesicht und ihre Haare laufen und hörte deshalb nichts von den lauten Geräuschen und dem anschließenden Gespräch, das sich in eben diesem Moment direkt vor der Kellerwohnung zutrug.

 

Fünfzehn Minuten später stand sie, in ihren neuen Klamotten und mit frisch gewaschenen Haaren, vor dem Spiegel und wollte sich gerade mit der Tagescreme die Müdigkeit aus dem Gesicht schminken, als sie ein lautes, knarrendes Geräusch hörte.

 

Der Kleiderschrank!, dachte sie und zuckte erschrocken zusammen. Sie kannte das Geräusch, das immer dann auftrat, wenn er den Kleiderschrank von der Wohnungstür wegrückte. Aber wie konnte das sein? Hatte sie nicht erst vor ein paar Minuten seinen Wagen wegfahren hören? Würde ihr vielleicht doch noch jemand zur Hilfe kommen?

 

Aufgeregt rannte Marie zur Wohnungstür und wartete gespannt darauf, wann sie sich endlich öffnen würde. Draußen vor der Tür war definitiv irgendjemand, aber warum dauerte das nur so lange? Sie vernahm ein klirrendes Geräusch. Etliche Sekunden später hörte sie endlich das vertraute Geräusch, das der Schlüssel verursachte, wenn er langsam im Schloss herumgedreht wurde. Dann senkte sich endlich die Türklinke, schnellte aber sofort ruckartig wieder zurück.

 

Was ist da draußen nur los?, fragte sie sich besorgt.

 

Wieder senkte sich die Türklinke, aber dieses Mal wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Erneut verging eine kleine Ewigkeit, ehe die Tür sich, begleitet von scharrenden und schnaufenden Geräuschen, langsam und ruckartig weiter öffnete. Als sie endlich vollkommen offen stand,  hatte Marie freie Sicht auf die Kellertreppe, die hinauf in das Wohnhaus führte. Ängstlich wich sie zwei Schritte zurück. Ihr war die Situation unheimlich und sie hatte ein ganz mieses Gefühl in der Magengegend. Irgendetwas stimmte hier nicht!

 

Dann kam plötzlich ihr Entführer hinter der Tür hervor. Auf seiner Stirn klaffte eine stark blutende Wunde und seine Hände und Füße waren gefesselt. Vorsichtig hüpfte er auf sie zu und versuchte etwas zu sagen. Aber der Knebel, der ihm im Mund steckte, ließ nur ein paar unverständliche Laute zu.

 

Marie wich einen weiteren Schritt zurück. Wieso ist er gefesselt und geknebelt? Ist das etwa ein Trick? Was will er damit nur erreichen? Sie konnte sich einfachen keinen Reim daraus machen.

 

Vielleicht ist das meine Chance!, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf.

 

Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, rannte an ihm vorbei und spurtete die Treppenstufen hinauf. Mit voller Wucht warf sie sich gegen die Kellertür, musste aber feststellen, dass sie verschlossen war. Sie ruckelte noch ein paar Mal verzweifelt an der Türklinke, ehe sie entmutigt und weinend zusammenbrach und sich erschöpft auf die oberste Treppenstufe setzte.

 

Am unteren Ende der Treppe stand ihr Entführer. Mit weit aufgerissenen Augen schaute er sie an und versuchte weiterhin, ihr irgendetwas mitzuteilen. Vorsichtig rutschte Marie einige Stufen nach unten und schaute ihm dabei unentwegt in seine braunen Augen, die eine Panik ausstrahlten, die sie so noch nie zuvor bei irgendjemandem gesehen hatte. Er schien ernsthaft in Gefahr zu sein. 

 

Soll ich ihm den Knebel abnehmen? Was habe ich schon zu verlieren?, dachte sie, erhob sich und löste den Knoten an seinem Hinterkopf.

 

1. Kapitel

 

Alltag

 

Mittwoch

 

Fast an jedem Werktag klingelte der Postbote gegen 11:30 Uhr an der Haustür von Dennis Fink. An diesem Tag war er jedoch etwas später als gewöhnlich und deshalb hatte Dennis in den letzten Minuten immer wieder nervös auf die Uhr gesehen. Er erwartete zwar keine besondere Paketsendung oder einen eiligen Brief, aber irgendwie gehörte dieser Moment des Tages schon zu seinen persönlichen Highlights. Schließlich war sein Briefzusteller häufig der einzige Mensch, den er den ganzen Tag über zu Gesicht bekam.

 

Dennis öffnete die Tür und begrüßte den Postboten freundlich, nachdem dieser endlich an seiner Haustür geklingelt hatte. Sein Blick fiel sofort auf die schulterlangen Haare des Mannes, der ungefähr seine Größe hatte. Er trug sein Haar heute zum ersten Mal offen. Dennis war überrascht, wie lang sie bereits geworden waren. Als er ihn das allererste Mal gesehen hatte, trug er noch eine klassische Kurzhaarfrisur. Vor etwa einem Jahr musste er dann damit begonnen haben, sich seine Haare wachsen zu lassen. Bisher hatte er sie allerdings   immer zu einem Zopf zusammengebunden gehabt.

 

Seine Haare sind ja schon genauso lang wie meine, dachte er und strich sich unbewusst mit den Händen über seinen Pferdeschwanz. Wenn er nicht diesen komischen Bart tragen würde, könnte man uns glatt für Brüder halten.

 

Eigentlich mochte er seine langen Haare nicht besonders, aber ein Friseurbesuch war für ihn einfach ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Und da alle seine Selbstversuche mit der Schere ein katastrophales Ergebnis zur Folge gehabt hatten, hatte er sie irgendwann einfach wachsen lassen. Da er sowieso kaum noch unter Menschen ging, spielte sein Äußeres für ihn ohnehin keine große Rolle mehr.  

 

Der Postbote hielt ihm ein größeres, aber unscheinbares Paket entgegen.

 

Sicher meine neue Jacke, dachte Dennis und nahm das Paket entgegen. »Danke!«, sagte er.

 

Da das Paket trotz seiner Größe sehr leicht war, war er sich jetzt ziemlich sicher, dass sich darin seine erst kürzlich bestellte Jacke befinden musste. Er drehte sich um, stellte den Karton in den Hausflur und wollte gerade die Tür hinter sich schließen, als der Postbote ihn vollkommen überraschend noch einmal ansprach.

 

»Ist das von Ihrer Familie?«, fragte er und zeigte auf das Paket.

 

Irritiert blickte Dennis zu ihm auf. Bisher war sein Paketzusteller immer angenehm schweigsam gewesen, hatte ihn lediglich gegrüßt, höchstens mal nach einer Unterschrift verlangt und ist dann sofort wieder gegangen.

 

Soll ich ihm antworten?, fragte er sich.

 

Eigentlich vermied er jegliche Konversationen mit anderen Menschen. Das Risiko war ihm einfach viel zu groß. Aber wenn er ihm jetzt nicht geantwortet hätte, wäre das schon sehr sonderbar gewesen.

 

»Nein, nur eine Bestellung aus dem Internet«, gab er ihm deshalb eine bewusst kurze Antwort und unternahm einen weiteren Anlauf, um die Tür zu schließen.

 

»Entschuldigen Sie, ich wollte nicht zu neugierig sein«, begann der Postbote seine unerwartete Frage zu erklären. »Sie bekommen nur so wahnsinnig viele Pakete und sind immer zu Hause, wenn ich komme. Das ist schon sehr ungewöhnlich und irgendwie...« Er sprach nicht weiter.

 

»Ja?«, fragte Dennis nach. Ihn interessierte jetzt schon, welche Gedanken sich der wildfremde Mann über ihn gemacht hatte.

 

»Na ja, irgendwie habe ich mir Sorgen um Sie gemacht«, brachte dieser schließlich mühsam hervor und schaute verschüchtert zu Boden.

 

Dennis musterte ihn argwöhnisch. »Wieso machen Sie sich denn Sorgen um mich?«

 

»Nun ja, Sie sind immer alleine zu Hause und da habe ich mich gefragt, ob Sie vielleicht Hilfe gebrauchen könnten.« Der Postbote schaute vom Boden auf und blickte ihm jetzt so direkt in die Augen, dass es ihm regelrecht unangenehm war.  

 

Dennis fand seine Frage schon sehr merkwürdig. Da er aber schon seit Jahren den Kontakt mit seinen Mitmenschen mied, war er nun wahrlich kein Experte auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Kommunikation.

 

»Sie müssen sich keine Sorgen um mich machen. Ich bin so oft zu Hause, weil ich von hier aus arbeite«, sagte er schließlich und hoffte, ihn damit etwas beruhigen zu können.

 

»Was machen Sie denn?«

 

»Ich bin Autor«, antwortete er ihm und hatte damit nicht einmal wirklich gelogen.

 

»Aber Sie haben noch nie ein Paket oder einen Brief von einer Privatperson erhalten. Es sind immer nur Warensendungen und Rechnungen. Und als ich heute dieses neutrale Paket für Sie ausliefern sollte, da dachte ich...«

 

Dennis wurde das Gespräch langsam wirklich unangenehm. Der Postbote war ohnehin schon viel zu lange hier. Es war viel zu gefährlich für ihn, noch länger vor seiner Haustür zu stehen.

 

Ich muss ihn so schnell wie möglich loswerden!, dachte er und beschloss, ihm ein letztes Mal zu antworten, um ihm dann endgültig die Tür vor der Nase zuzuschlagen.

 

»Zu meiner Familie habe ich keinen Kontakt mehr. Ich bin generell gerne alleine und pflege wenige soziale Kontakte. Vielen Dank, dass Sie sich um mich sorgen, aber dazu besteht absolut kein Grund. Jetzt muss ich aber wirklich weiterarbeiten!«

 

Schwungvoll warf er die Tür ins Schloss, drehte den Schlüssel zweimal herum und drückte zur Kontrolle die Klinke herunter. Erschöpft setzte er sich auf den kalten Fliesenboden im Flur und starrte an die gegenüberliegende Wand. Seine Gedanken begannen Amok zu laufen.

 

Hätte ich ihm vielleicht sagen sollen, dass alle meine Familienmitglieder tot sind? Aber vielleicht hätte er mich dann noch gefragt, wie es dazu gekommen ist? Was hätte ich ihm dann sagen sollen? Dass alles meine Schuld war? Dass sie wegen mir gestorben sind? Dass ich nur deshalb den Kontakt zu Menschen meide, damit das nicht noch einmal passiert?

 

Er rappelte sich vom Boden auf und ging nervös den Flur auf und ab. Dennis wusste einfach nicht, was er jetzt tun sollte.

 

Hoffentlich passiert ihm jetzt nichts! Ob ich ihm hinterherfahren sollte?

 

Er dachte noch eine Zeitlang darüber nach, entschied dann aber, dass es nahezu unmöglich war, einem Postboten unauffällig zu folgen. Daher entschied er, bis morgen zu warten und darauf zu hoffen, dass er auch am nächsten Tag wieder eine Lieferung für ihn dabei haben würde. Erst dann würde er die Gewissheit haben, dass ihm der lange Aufenthalt vor seiner Haustür nicht geschadet hatte.

 

Um sich ein wenig abzulenken, ging er die Treppenstufen hinauf in sein Büro. Als er gerade am Schreibtisch saß und seinen Laptop aufklappen wollte, durchzuckte ihn einer dieser quälenden Gedanken, die ihn so oft heimsuchten.

 

Habe ich eigentlich die Tür abgeschlossen?

 

Er stand auf und ging die Treppe wieder hinunter. Mehrfach betätigte er die Türklinke, bis er sich schließlich absolut sicher war, dass die Tür definitiv nicht mehr geöffnet werden konnte. Erst danach kehrte er wieder an seinen Schreibtisch zurück. Er schaltete seinen WLAN-Router ein, da er noch schnell eine dringende Überweisung tätigen musste. Nachdem er die Daten in das Online-Banking seiner Direktbank eingegeben hatte, schaltete er den Router aber auch sofort wieder aus. Auch wenn sein nächster Nachbar mehr als fünfhundert Meter entfernt wohnte, befürchtete er stets, dass irgendjemand seinen drahtlosen Internetzugang missbrauchen könnte, um so zum Beispiel die Textdateien seiner Bücher zu stehlen oder sein Online-Banking zu hacken. Deshalb ließ er die WLAN-Verbindung nie länger als nötig bestehen.

 

Nachdem er wieder offline war, öffnete er die Textdatei seines aktuellen Buches. Nachdenklich starrte er auf den blinkenden Cursor. Er hatte sowieso schon große Schwierigkeiten an der entscheidenden Stelle seines neuen Liebesromans weiterzukommen, aber jetzt spukte ihm zu allem Überfluss auch noch der Postbote im Kopf herum.

 

Warum hat er nicht einfach nur das verdammte Paket abgegeben und ist dann zum nächsten Haus weitergefahren?, fragte er sich und bemerkte, wie wütend er auf einmal war.

 

Unter diesen Umständen machte es einfach keinen Sinn weiter an seinem Roman zu arbeiten. Er speicherte die Datei, obwohl er gerade einmal ein einziges neues Satzzeichen hinzugefügt hatte, zog eine Sicherheitskopie auf seinen USB-Stick, den er zur Sicherheit immer in einem feuerfesten Safe aufbewahrte und ging hinunter in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen. Während der Wasserkocher das Wasser erhitzte, schaute er aus seinem Küchenfenster in den Garten hinaus. Die Sonne schien vom Himmel und tauchte die Büsche und Sträucher in ein angenehm warmes Licht. Vielleicht könnte ihn ja ein wenig Gartenarbeit von seinen düsteren Fantasien ablenken?

 

Er füllte einen Löffel löslichen Kaffee in einen Becher, gab einen Würfel Zucker hinzu und übergoss das Ganze mit kochendem Wasser. Hinterher zog er den Stecker des Wasserkochers sofort wieder aus der Steckdose. Seit er einmal davon gelesen hatte, dass eine defekte Sicherung in einem solchen Gerät, zu einem Wohnungsbrand geführt hatte, ließ er den Stecker des Wasserkochers wirklich nur dann eingesteckt, wenn er direkt daneben stand.

 

Während er das heiße Getränk – Schluck für Schluck – zu sich nahm, schaute er auf seinen Kalender, der an der Wand neben dem Kühlschrank hing.

 

Morgen ist ja Donnerstag!, stellte er erschrocken fest.

 

Er mochte diesen Wochentag nicht besonders, da immer am Donnerstagvormittag Markttag war und er deshalb den sicheren Schutz seines Hauses verlassen musste, um sich frische Lebensmittel kaufen zu können. Leider konnte er noch nicht alles, in der gewünschten Qualität, im Internet bestellen, so dass ein wöchentlicher Marktbesuch immer noch unerlässlich war, um eine gesunde und ausgewogenen Ernährung zu gewährleisten.

 

Nachdem er den letzten Schluck Kaffee heruntergeschluckt hatte, ging er in sein Badezimmer und zog sich seine alten Gartenklamotten an. Bevor er das Haus verließ, vergewisserte er sich noch einmal, ob er auch wirklich den Stecker des Wasserkochers aus der Steckdose gezogen hatte und ging dann schließlich hinaus, um den Rasen zu mähen und ein wenig Unkraut zu jäten.

 

Es tat ihm gut, etwas zu tun zu haben, bei dem er nicht so viel nachdenken musste. Während er mit dem Rasenmäher seine Bahnen über die großzügige Rasenfläche zog, fühlte sich sein Kopf angenehm leer an. Die hohen Bäume und Büsche, die das große Grundstück einrahmten, boten ihm einen perfekten Sichtschutz vor neugierigen Blicken. Sein Garten war einer der wenigen Plätze, an denen er die Dämonen in seinem Kopf zum Schweigen bringen konnte.  

 

*

 

»Wir sehen uns dann morgen, ja?« Marie stand neben der Fahrertür eines tiefergelegten, schwarzen Golf V. Der Motor lief und brummte laut vor sich hin. Die Fensterscheibe war heruntergelassen, so dass sie sich mit ihren Unterarmen dort abstützen konnte. Ihre langen, blonden Haare hingen an der Fahrzeugtür herunter.

 

»Na klar!«, antwortete ihr Mehmet, nahm ihr zartes Gesicht zwischen seine groben Hände und küsste sie leidenschaftlich. Dann drehte er die Musik wieder auf volle Lautstärke, presste das Gaspedal zweimal hintereinander herunter, so dass der Motor laut aufheulte, legte den ersten Gang ein und raste mit quietschenden Reifen davon.

 

Marie stand noch so lange auf der Auffahrt ihres Elternhauses und schaute ihm sehnsüchtig hinterher, bis sein Wagen schließlich um die Ecke bog und hinter der Laubhecke des Spielplatzes verschwand. Dann zog sie ihren Schlüssel aus der Hosentasche und schloss die Haustür auf. Im Hauswirtschaftsraum entledigte sie sich ihrer roten, hochhackigen Lieblingsschuhe und stellte sie ordentlich in das Regal, das ihr Vater extra für ihre großzügige Sammlung gebaut hatte.

 

»Ich bin wieder da!«, rief sie und wollte, ohne ihren Eltern unter die Augen zu treten, in ihr Zimmer flüchten, das im ersten Stock des Einfamilienhauses lag.

 

»Du bist zu spät!«, knurrte ihr Vater. Er kam aus der Küche und hatte sie erwischt, noch bevor sie die Treppe erreicht hatte. Frank Schröder sah es nicht gerne, wenn seine Tochter erst zu so später Stunde nach Hause kam. Auch wenn sie mittlerweile erwachsen geworden war, hatte er immer noch das Gefühl, sie beschützen zu müssen.

 

»Papa, ich bin volljährig!« Marie verdrehte genervt die Augen. Sie ahnte schon, worauf das Gespräch als nächstes hinauslaufen würde.

 

»Warst du wieder mit diesem Türken unterwegs?« Missbilligend verschränkte er die Arme vor seiner Brust und bedachte sie mit einem verärgerten Blick.

 

»Er heißt Mehmet und hat einen deutschen Pass. Du weißt, dass ich es nicht mag, wenn du ihn so nennst!«

 

»Nun lass doch das Kind in Ruhe!« Maries Mutter trat aus der Küche hinzu und legte ihrem Mann eine Hand auf die Schulter. Heike Schröder war stets bemüht, den Streit zwischen Vater und Tochter nicht eskalieren zu lassen. Zwar hatte auch sie ihre Vorbehalte gegenüber dem neuen Freund ihrer Tochter, aber sie vertraute ihr.

 

Frank Schröder drehte sich energisch um und schaute seine Frau verständnislos an. »Du findest es doch auch nicht gut, dass sie mit diesem muskelbepackten, tätowierten Moslem in seinem aufgemotzten Auto durch die Gegend fährt. Und dann immer diese laute Musik oder das, was er dafür hält. Ich kann euch ja schon hören, lange bevor er dich hier wieder absetzt. Und überhaupt, wann gedenkt der feine Herr sich denn mal bei uns vorzustellen?«

 

Marie schloss für eine Sekunde die Augen und holte tief Luft, bevor sie ihrem Vater antwortete. Sie wusste, dass sie keinen Streit mit ihm gewinnen konnte, wenn er in dieser Stimmung war. Solange er so wütend war, war er für rationale Argumente einfach nicht zugänglich. Zumal einige seiner Einwände ja auch durchaus richtig waren. Sie verstand ja selbst nicht, warum sie gerade diese Machotypen so anziehend fand. Es war aber einfach so.

 

»Wir kennen uns doch selbst erst seit zwei Wochen«, antwortete sie, und versuchte dabei so ruhig wie möglich zu bleiben. »Außerdem macht es ja wohl keinen Sinn, ihn dir vorzustellen, solange du derart viele Vorurteile ihm gegenüber hast. Vertraust du mir denn gar nicht?« Traurig schaute sie ihren Vater aus ihren großen, grünen Augen an. Schon als Kind konnte er diesem Blick kaum etwas abschlagen, und das wusste sie genau.

 

Er machte zwei Schritte auf seine Tochter zu, schlang seine Arme um ihren Hals und drückte sie fest an sich. »Natürlich vertraue ich dir!«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Aber ich mache mir halt Sorgen um dich. Kannst du das nicht verstehen?«

 

Marie löste sich aus seiner Umarmung und schaute ihm tief in die Augen. »Klar verstehe ich das! Aber lass mich doch meine eigenen Erfahrungen machen und vertraue darauf, dass deine kluge Tochter schon die richtigen Entscheidungen treffen wird.« Sie legte den Kopf leicht schief und lächelte ihn entwaffnend an.

 

»Aber er sieht aus wie ein Verbrecher, der gerade aus dem Knast entlassen wurde«, wagte er einen halbherzigen Einwand.

 

»Ist er aber nicht. Frag doch Norbert, wenn du mir nicht glaubst.« Marie wandte sich ab und ging die Treppe hinauf. »Ich muss noch ein paar Sachen erledigen, ich mache mir dann später selbst etwas zu essen, okay?« 

 

Traurig schaute Frank Schröder seiner Tochter hinterher. Vielleicht sollte ich wirklich mal Norbert auf ihn ansetzen?


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