Prolog

 

Es gibt kein Zurück

 

14. November 2014 / 00:14 Uhr

 

David saß auf der kühlen Holzbank des überdachten Grillplatzes und kratzte sich die Wange. Die alte Sturmhaube, die er sich über den Kopf gezogen hatte, kratzte einfach fürchterlich. Nervös schaute er auf sein Handy.

 

00:14 Uhr, wo bleibt sie denn nur?, dachte er und ließ die Spielzeugwaffe nervös zwischen seinen Händen hin und her wandern. Sie sah so täuschend echt aus, dass er inständig hoffte, den Elektroschocker, den er in seiner Jackentasche versteckt hatte, nicht verwenden zu müssen.

 

Seit dem Sonnenuntergang waren die Temperaturen rapide gesunken. Er legte die Waffe neben sich ab und stellte den Kragen seiner Jacke hoch. Dann stand er auf, trat von einem Bein auf das andere und umschlang seinen Oberkörper mit beiden Armen. Erneut schaute er auf das Display. 00:15 Uhr.

 

Er begann sich Sorgen zu machen, was angesichts seiner Planungen vollkommen irrsinnig war. Schließlich hatte er sich mit Tanja verabredet, um sie zu entführen und ihren Vater um ein stattliches Lösegeld zu erpressen. Sie hatten alles genau geplant. Er würde Tanja mit der Waffe bedrohen, sie fesseln und knebeln und dann in den Kofferraum seines Wagens verfrachten. Bereits am folgenden Tag sollte die Lösegeldübergabe stattfinden damit das arme Mädchen nicht zu lange leiden musste. Wenn alles gut ging, würde sie in weniger als 48 Stunden wieder frei sein.

 

00:17 Uhr. Nachdenklich schaute David auf sein Handydisplay. Vielleicht sollte ich Susanne lieber anrufen? Ob Sie den Erpresserbrief schon eingeworfen hat? Er hatte die Nummer seiner Freundin nicht gespeichert, aber er kannte sie auswendig. Nichts sollte nach ihrer fingierten Trennung darauf hindeuten, dass sie immer noch Kontakt zueinander hatten. Aber immer wenn die Sehnsucht nach ihr zu groß geworden war, hatte er darüber nachgedacht, einfach ihre Nummer zu wählen, um ihre liebliche Stimme hören zu können.

 

Zögerlich wischte er auf dem Display herum, als plötzlich ein lauter Schrei die Stille der Nacht durchzuckte. Erschrocken ließ David sein Handy auf den gepflasterten Untergrund fallen. War das etwa Tanjas Stimme? Er reckte den Kopf empor und schaute in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Von genau dort drüben müsste sie eigentlich kommen, überlegte er besorgt. Leider war es mittlerweile so dunkel, dass er kaum noch etwas erkennen konnte.

 

Er bückte sich, um die Überreste seines Handys aufzusammeln. »So ein Mist!«, fluchte er und betrachtete die Einzelteile, die jetzt in seinen Handinnenflächen lagen. Hastig stopfte er die Bruchstücke in seine Jackentasche und rannte Richtung Kanal. Er lauschte in die Dunkelheit, aber es war jetzt wieder genauso totenstill, wie vor dem Schrei.

 

Was soll ich denn jetzt machen? Hilflos schaute David sich um. Am liebsten würde er jetzt mit Susanne telefonieren, aber das ging ja leider nicht mehr. Er warf einen Blick zurück zum Grillplatz und den Kanal entlang. Aber weit und breit war keine Spur von Tanja oder einem beleuchteten Fahrrad zu erkennen.

 

Ich muss einfach nachsehen, entschied er schließlich und rannte so schnell er konnte am Ems-Jade-Kanal entlang. Er rannte so lange, bis er die Autobahnbrücke erreicht hatte. Aber von Tanja entdeckte er nicht die winzigste Spur. Er stützte sich auf seinen Knien ab und schnaufte tief durch. Hoffentlich ist ihr nichts passiert!

 

Zügigen Schrittes eilte er den Weg zurück, den er soeben gekommen war. Sie ist immer noch nicht da! David war jetzt endgültig davon überzeugt, dass Tanja nicht mehr kommen würde. Ich muss so schnell wie möglich Susanne informieren. Hoffentlich hat sie den Erpresserbrief nicht eingeworfen! Sie wollte den Brief ja auch erst dann einwerfen, wenn Tanja das Grundstück verlassen hatte. Vielleicht ist sie ja überhaupt nicht losgefahren? Vielleicht hat sie ja verschlafen oder ihre Eltern haben es doch noch herausgefunden und ihr verboten?

 

Er machte sich auf den Weg, um Susanne am vereinbarten Treffpunkt aufzusuchen und sich endlich dieser quälenden Ungewissheit zu entledigen.

 

1. Kapitel

 

Der Selbstmord

 

2001

 

Patrick saß mit seinem Bruder David auf dem Teppichboden im Wohnzimmer und starrte auf den Fernseher. Sein Onkel Marko, der vor einigen Tagen aus Ungarn angereist war, lag auf dem Sofa und schnarchte so laut, dass Patrick selbst den Moderator im Fernsehen nicht mehr verstehen konnte. Eigentlich wollten sie sich zusammen „Wetten dass..?!.“ ansehen, aber sein Onkel war vom vielen Kisten schleppen und den Renovierungsarbeiten der letzten Tage wohl einfach zu erschöpft.

 

Bereits nächste Woche mussten sie die Wohnung räumen, um Platz für den Nachmieter zu machen. Warum man beim Auszug auch noch renovieren musste, verstand Patrick aber immer noch nicht. Es stehe halt so im Mietvertrag, hatte seine Mutter immer wieder zu ihm gesagt. Ihm wäre ein solcher Vertrag vollkommen egal. Schließlich hatte der Vermieter ihnen die Wohnung gekündigt, nur weil seine Mutter ein paar Monate lang die Miete nicht zahlen konnte.

 

Patrick war wütend. Mit seinen gerade einmal neun Jahren hatte er schon sehr viele Schicksalsschläge zu verarbeiten. Zuerst hatte er seinen Vater, der vor einigen Jahren bei einem schweren Autounfall starb, verloren. Dann wurde seiner Mutter der Job gekündigt und jetzt mussten sie auch noch ihr Zuhause verlassen.

 

Seine Familie hatte noch nie besonders viel Geld gehabt und er musste oft auf Dinge verzichten, die für andere Kinder in seinem Alter ganz normal waren. Spielkonsole, PC und eigener Fernseher waren für ihn Luxusgüter, die er nur aus den Kinderzimmern seiner Schulfreunde kannte.

 

In Ungarn würde alles besser werden, hatte seine Mutter ihm immer wieder versprochen, wenn er in den letzten Wochen besonders traurig gewesen war. Doch Patrick konnte in ihrem aufgezehrten Blick kaum Hoffnung erkennen. Seine Mutter war früher eine sehr lebenslustige Frau gewesen. Doch die Schicksalsschläge der Vergangenheit hatten ihr offensichtlich jegliche Freude genommen.

 

Er wollte nicht nach Ungarn, ein Land, dessen Sprache er nicht verstand und von dem seine Freunde sagten, dass dort nur Asoziale lebten. Er war in Deutschland aufgewachsen und fühlte sich hier zu Hause. Aber seine Mutter sah hier einfach keine Perspektive mehr und hatte deshalb beschlossen, in ihr Heimatland zurückzukehren. Patricks Onkel führte dort einen landwirtschaftlichen Betrieb, in dem er, sein Bruder und seine Mutter mitarbeiten sollten.

 

»Wollen wir Mama fragen, ob wir ein Eis essen dürfen?«, fragte ihn David und riss ihn so aus seinen trüben Gedanken.

 

»Super Idee!«, antwortete Patrick begeistert.

 

»Ich werfe eine Münze und der Verlierer geht fragen, okay?«, schlug David vor.

 

Patrick war einverstanden und sah zu, wie sein Bruder eine Münze aus seiner Hosentasche hervorkramte. »Ich nehme Kopf!«, sagte er und warf die Münze in einem hohem Bogen in die Luft. Eigentlich wollte er sie auffangen, aber die Münze glitt ihm durch die Finger, rollte über den Teppichboden und wurde schließlich durch den Couchtisch gestoppt. »Kopf!«, triumphierte David erleichtert.

 

Verdammter Mist! Patrick ärgerte sich schwarz und fluchte leise vor sich hin: »Hätte ich doch nur selber die Münze geworfen. Dann hätte ich sicher gewonnen und müsste Mama jetzt nicht bei ihrem wöchentlichen Entspannungsbad stören.«

 

Das Schaumbad war eines der wenigen Dinge, die seine Mutter nur für sich machte. Meist verschwand sie für mehrere Stunden im Bad. Manchmal hatte er heimlich an der Tür gelauscht und sie ab und zu sogar singen gehört. Das Badezimmer schien der einzige Ort zu sein, an dem sie ihre Sorgen vergessen konnte.

 

Da seine Mutter in den letzten Wochen andauernd traurig gewesen war, versuchte er eigentlich, sie während dieser Auszeiten nicht zu stören. Aber die Verlockung einer eiskalten Erfrischung war jetzt einfach zu groß.

 

Vorsichtig schlich er durch den Flur Richtung Badezimmer. Hinter der Tür hörte er leise, klassische Musik, die seiner Mutter angeblich beim Entspannen half. Er konnte das nicht verstehen, ihn machte dieser Katzenjammer eigentlich nur aggressiv.

 

Langsam presste er die Türklinke der Badezimmertür hinunter und öffnete sie einen Spaltbreit.

 

»Mama?«, rief er leise. Doch seine Mutter antwortete ihm nicht. Er rief sie noch einmal, diesmal etwas lauter. Aber wieder bekam er keine Antwort. Patrick wurde wütend. Sie könnte mich ja wenigstens anschreien, wenn sie nicht gestört werden will. »Wieso sagst du denn nichts?!«, schrie er genervt und stieß die Tür zum Badezimmer auf. Sein Blick fiel auf den bleichen, leblosen Körper seiner Mutter. Ihr Kopf war auf die Badewannenkante gesunken, ihre Augen waren geschlossen. Es schien, als würde sie schlafen. Neben der Wanne stand eine halbleere Wodkaflasche.

 

Patrick ging einige Schritte auf seine Mutter zu. Ihre langen, lockigen Haare schwammen im vom Blut gefärbten Badewasser. »Mama«, flüsterte er ihr ins Ohr und ruckelte zärtlich an ihrer Schulter. Sie bewegte sich nicht.

 

Er stieg in das blutrote Badewasser, legte sich neben seine Mutter und umarmte ihren leblosen Körper, so fest er nur konnte. Er roch an ihren Haaren und atmete ihren Duft so tief wie möglich ein. Schon als kleines Kind hatte er gerne auf ihrem Schoß gesessen und den Geruch ihrer Haare inhaliert. Er fand, dass sich ihr Duft in all den Jahren nie verändert hatte und war erleichtert, dass er auch nach ihrem Tod noch nicht verflogen war.

 

»Was ist denn hier los?«, fragte sein Onkel angewidert, nachdem er einige Minuten später ins Badezimmer kam, um nach Patrick zu suchen. Er schlug die Hände vors Gesicht, als er den Leichnam seiner Schwägerin sah.

 

Dann versuchte er Patrick zu packen, doch der umklammerte mit aller Kraft den toten Körper seiner Mutter. Patrick hatte sich fest vorgenommen, sie nie wieder loszulassen. »Sie ist tot! Sie ist tot!«, schrie sein Onkel ihn an und zerrte ihn schließlich mit Gewalt aus der Wanne. Von der kräftigen Ohrfeige, die er ihm verpasste, spürte Patrick überhaupt nichts.

 

Völlig verstört und total durchnässt trottete er aus dem Badezimmer. Sein Onkel knallte die Tür hinter ihm zu und verriegelte das Schloss. Patrick schielte durch das Schlüsselloch und beobachtete, wie er einen Briefumschlag vom Boden aufhob, den Brief herausnahm und zu lesen begann.

 

»Was ist denn los? Wieso bist du patschnass?«, fragte ihn David und schaute verstört zu ihm hinüber. Er war durch das Geschrei neugierig geworden und ebenfalls in den Flur gekommen.

 

»Ach nichts«, antwortete Patrick, packte ihn an der Schulter und ging mit ihm in die Küche, um sich ein Eis aus dem Tiefkühlfach zu holen. Er wird es noch früh genug erfahren, dachte er und wollte seinem Bruder noch einen letzten glücklichen Moment gönnen.

 

*

 

Die Beerdigung ihrer Mutter fand im sehr kleinen Kreise statt. Außer ihnen selbst und ihrem Onkel Marko verloren sich nur noch ein paar Nachbarn und ehemalige Arbeitskollegen in der riesigen Kirche. Die Trauerrede war sehr schön. Der Pfarrer sagte viele nette Dinge über ihre Mutter, obwohl er sie ja überhaupt nicht gekannt hatte.

 

Patrick schaute neben sich auf die Kirchenbank. Sein Bruder weinte bereits seit Beginn des Gottesdienstes, während sein Onkel Marko eher teilnahmslos und abwesend wirkte.

 

»Nun reiß dich mal zusammen!«, zischelte er seinem Bruder genervt zu.

 

David zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, wischte sich die Tränen von den Wangen und schnäuzte sich lautstark die Nase. »Ich versuche es ja«, stammelte er kleinlaut und richtete seinen Blick wieder auf den Sarg, der zwischen zwei vereinzelnden Blumenkränzen aufgestellt worden war. Er hoffte immer noch, dass der Deckel sich plötzlich öffnen und seine Mutter einfach heraussteigen würde. Sie hatte so friedlich ausgesehen, als er sie das letzte Mal in der Leichenhalle besuchen durfte. Es sah aus, als würde sie nur schlafen. Ihre Gesichtszüge waren weich und entspannt und sie wirkte so zufrieden und ausgeglichen, wie schon seit Monaten nicht mehr.

 

»Glaubst du, Mama kann uns vom Himmel aus sehen?«, fragte David seinen Bruder.

 

Patrick rollte genervt mit den Augen. Die Naivität seines Bruders brachte ihn manchmal zur Weißglut. »Natürlich nicht. Sie ist tot, begreife das doch endlich!«, flüsterte er zurück.


Erneut stiegen David die Tränen in die Augen. Er drehte den Kopf zur Seite, damit sein Bruder diesen erneuten Anfall von Schwäche nicht mitbekam. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte Patrick sich sehr verändert. Er war kalt und gefühllos, zeigte kaum Emotionen und blockte jedes Gespräch über ihre Mutter ab. Sobald David nur ihren Namen erwähnte, verließ er entweder wortlos den Raum oder er brachte ihn mit wenigen, impulsiven Worten zum Schweigen.

 

David schaute seinen Onkel an. Auch er schien von seinen Tränen nichts mitzubekommen. Seinen Kopf hatte er dem Pastor zugewandt, aber sein Blick schien ins Leere zu gehen. David fragte sich, was wohl in ihm vorgehen mochte. Seit dem Selbstmord seiner Mutter war er sehr verschlossen und redete kaum noch ein Wort mit ihm oder seinem Bruder. Sorgsam, aber lieblos hatte er sich um sämtliche Formalitäten und Aufgaben gekümmert. Er hatte die Beerdigung organisiert, die Wohnung zu Ende renoviert und ihm und seinem Bruder dreimal am Tag eine Mahlzeit zubereitet, die sie aber jedes mal ohne ihn einnehmen mussten. Er aß lieber während der Renovierungsarbeiten oder abends vor dem Fernseher. David hatte das Gefühl, als wollte er ihnen aus dem Weg gehen, wo er nur konnte.

 

Ob er uns jetzt überhaupt noch mit nach Ungarn nehmen möchte? Dieser Gedanke durchzuckte ihn so plötzlich wie ein elektrischer Schlag. In den letzten Tagen war er so mit sich und der Trauer um seine Mutter beschäftigt gewesen, dass er sich über seine Zukunft ohne sie, noch überhaupt keine Gedanken gemacht hatte. Ihr Onkel war ihr einziger, noch lebender Verwandter. Ihre Großeltern waren schon vor Jahren gestorben und ihre Mutter war ein Einzelkind gewesen. Es wäre also logisch, wenn er sie mitnehmen würde, zumal es ja sowieso so geplant gewesen war. Aber was ist, wenn er das jetzt überhaupt nicht mehr möchte? Was ist, wenn er keine Lust hat, sich um zwei Kinder zu kümmern, jetzt, wo Mama tot ist?

 

David wurde übel. Im Gegensatz zu seinem Bruder hatte er sich sehr auf das Leben in Ungarn gefreut. Er liebte Tiere und sein Onkel hatte ihm versprochen, ihm alles zu zeigen, was er über die Landwirtschaft wusste. Außerdem mochte er seinen Onkel, auch wenn er ihn bis vor kurzem kaum gekannt hatte. Aber in den wenigen Tagen, die sie vor dem Tod seiner Mutter zusammengelebt hatten, war er sehr nett zu ihm und besonders nett zu seiner Mutter gewesen. Und schließlich hatte seine Mutter sich ja auch ein Leben in Ungarn für ihn und seinen Bruder gewünscht. Diesen letzten Wunsch wollte er ihr unbedingt erfüllen.

 

Orgelmusik setzte ein und riss David aus seinen Gedanken. Die Glocken begannen lautstark zu läuten. Sein Bruder und sein Onkel waren aufgestanden und gingen den Mittelgang entlang. David beeilte sich, um ihnen zu folgen. Vorneweg liefen der Pastor und einige Männer mit schwarzen Hüten, die den Sarg seiner Mutter trugen.

 

Sie verließen die Kirche und folgten den Sargträgern. Während sie so den staubigen Friedhof überquerten, begutachtete Patrick die einzelnen Grabsteine und errechnete das erreichte Alter der Verstorbenen. Die meisten waren sehr alt geworden. Nur wenige waren im Alter seiner Mutter oder sogar noch früher verstorben. Warum durften die so lange leben und meine Mama nicht? Er schaute zum Himmel hinauf. Es war ein herrlicher Frühlingstag. Die Sonne schien, der Himmel war strahlend blau und nur von wenigen weißen Wölkchen verziert. Er hielt es für einen schlechten Witz Gottes, dass er, an einem so schrecklichen Tag, die Sonne derart strahlen ließ. Warum hast du das zugelassen?, begann er innerlich mit Gott zu sprechen, so wie es ihm seine Mutter beigebracht hatte. Dabei hatte er am Tage ihres Todes eigentlich entschieden, dass es einen gütigen Gott nicht geben konnte.

 

Die Trauergemeinde stoppte und Patrick starrte in das tiefe Loch im Boden. Der Pastor sprach noch ein paar letzte Worte, dann wurde der Sarg seiner Mutter hinabgelassen.

 

Dass seine Mutter in einem Erdloch in Deutschland begraben liegen würde, während er selbst in Ungarn leben müsste, war für ihn nicht so schlimm. Seit dem Tag, an dem er sie in der Wanne gefunden hatte, brauchte er sowieso nur die Augen zu schließen, tief einzuatmen und schon sah er seine Mutter vor sich. Den Duft ihrer Haare trug er seit ihrem Todestag stets bei sich.


Es vergingen noch einige Wochen, ehe ihr Onkel die letzten Formalitäten mit dem Jugendamt geklärt hatte. Der Vermieter hatte sie solange noch in der alten Wohnung wohnen lassen. Wahrscheinlich hat er nur ein schlechtes Gewissen, dachte Patrick und hievte sein Gepäck in den Kofferraum des alten VW Golf. Ihr Onkel wollte sie tatsächlich mit nach Ungarn nehmen. Wahrscheinlich hätte auch er ein schlechtes Gewissen, wenn er es nicht täte. Schließlich hat er es Mama ja versprochen. Patrick selber war es mittlerweile vollkommen egal, wo er in Zukunft leben musste. Nach dem Tod seiner Mutter wusste er eines ganz genau: Egal was noch kommt, ich lasse mich nicht unterkriegen!

 

Die Autofahrt nach Ungarn dauerte eine halbe Ewigkeit. Der Wagen seines Onkels war schon über zwanzig Jahre alt und der Motor heulte bei höheren Geschwindigkeiten immer wieder bedrohlich auf. Deshalb schlichen sie über die Autobahnen und Landstraßen und kamen nur sehr langsam voran. Während der Autofahrt sprachen sie kaum ein Wort miteinander. Ihr Onkel starrte wie paralysiert auf die vor ihm liegende Straße, während Patrick und David meist stumm aus dem Fenster schauten. An die Wortkargheit seines Onkels hatte Patrick sich mittlerweile gewöhnt und empfand sie, im Gegensatz zum gestiegenen Redebedarf seines Bruders, als wohltuend und angenehm. Da sein Bruder ständig versuchte, ihm ein Gespräch über ihre tote Mutter aufzuzwingen, genoss er diese Momente der Stille besonders.

 

Nur ein paar Mal hielten sie kurz an, um eine Pinkelpause zu machen. Da im Auto weiterhin kaum gesprochen wurde und es auch keine Musik gab, vertrieb Patrick sich gelegentlich die Zeit damit, seinen Bruder und seinen Onkel zu beobachten. Er fand, dass sich die beiden nach dem Tod seiner Mutter sehr stark verändert hatten.

 

Sein Bruder war jetzt ein noch größerer Waschlappen als zuvor. Schon früher war er immer das Mamasöhnchen gewesen, aber jetzt weinte er manchmal stundenlang, ohne einen ersichtlichen Grund. Gut, Mama ist tot. Aber das darf doch nach mehreren Wochen nun wirklich nicht mehr zu unvorhersehbaren Weinkrämpfen führen, fand Patrick. Er selber hatte seitdem nicht ein einziges Mal geweint und war auch sehr stolz darauf.

 

Sein Onkel Marko hatte sich aber noch stärker verändert. Vor dem Selbstmord hatte er sich noch sehr über das zukünftige Zusammenleben auf seinem Hof gefreut. Während er in der alten Wohnung beim Renovieren geholfen hatte, war er eigentlich immer gut gelaunt, lachte viel und machte manchmal sogar Blödsinn mit ihnen. Jetzt hingegen schien er nur noch verbittert zu sein. Seit dem Todestag seiner Mutter hatte ihr Onkel eigentlich noch kein nettes Wort zu ihm oder seinem Bruder gesagt. Meist sprach er überhaupt nicht mit ihnen und wenn er es doch nicht verhindern konnte, klang er meist genervt und aggressiv. Warum er sich so verändert hatte, verstand Patrick nicht. Schließlich war seine Mutter ja nur die Witwe seines Bruders gewesen und hatte keinerlei Blutsverwandtschaft mit ihm. Ihm selbst waren alle Menschen egal, die nicht wenigstens ein paar Gene mit ihm teilten und selbst die nervten ihn manchmal tierisch.

 

Nachdem sie die Grenze überquert hatten, schaute David nur noch aus dem Fenster. Er fühlte sich, als hätte er plötzlich und unbemerkt nicht nur das Land, sondern auch noch die Zeit verlassen. Die Geschäfte, die Autos auf den Straßen, die Leute in den Cafés. Alles sah irgendwie unmodern und alt aus. Und hier soll ich die nächsten Jahre leben?

 

Als sie den Hof seines Onkels erreicht hatten, stiegen sie aus dem Wagen aus und David schaute sich schockiert um. Draußen war es schon lange dunkel geworden und der kleine Scheinwerfer, der den Hof beleuchtete, spendete nur wenig Licht. Trotzdem konnte er erahnen, was die Zukunft für ihn bereithielt.

 

Die Scheune war alt und vermodert. Der Hof war dreckig und es stank einfach nur widerlich. Das Wohngebäude war nicht nur uralt, sondern auch völlig heruntergekommen. Einige Scheiben waren zerbrochen und das reetgedeckte Dach hatte mehrere undichte Stellen.

 

»Wir sind da«, brummte ihr Onkel vor sich hin, öffnete den Kofferraum, schnappte sich seinen eigenen Koffer und ging ins Haus.

 

Patrick und sein Bruder blieben alleine auf dem Hof zurück. Beide waren sprachlos und schauten sich weiter auf dem Hof um. Erst als der Scheinwerfer erlosch und sie in vollkommener Dunkelheit standen, brach Patrick sein Schweigen. »Lass uns auch reingehen. Das Auto packen wir lieber morgen aus«, sagte er und ging vorsichtig Richtung Haustür.

 

Im Haus sah es noch viel schlimmer aus. Die Tapeten lösten sich teilweise schon von den Wänden, die Teppiche waren übersät mit Flecken und viele der Räume hatten nicht einmal eine Tür. Überall gab es Schimmel und Spinnweben. Die Luft roch modrig und es war sehr kalt. Am handwerklichen Geschick ihres Onkels konnte der Verfall des Gebäudes eigentlich nicht gelegen haben. Schließlich hatte er mit ihnen zusammen die Wohnung in Wilhelmshaven in einen einwandfreien Zustand zurückversetzt.

 

»Euer Zimmer ist oben!«, schrie Marko aus dem Nebenraum und zeigte die Treppe hinauf. Er saß am Küchentisch, hatte ein Glas in der Hand und kaute auf einer großen Salami herum.

 

»Können wir auch noch was essen?«, fragte Patrick.

 

»Es ist schon zu spät. Geht jetzt lieber gleich ins Bett«, schmatzte Marko.

 

»Kann ich wenigstens noch einen Schluck Wasser haben?«, fragte Patrick wütend und griff nach einer nicht etikettierten Glasflasche.

 

»Nein!« Sein Onkel riss ihm die Flasche aus der Hand. »Ich habe gesagt, ihr sollt auf euer Zimmer gehen.« Er hatte seine Hand zur Faust geballt und schaute Patrick drohend an.

 

Doch Patrick ließ sich nicht einschüchtern. »Aber ich habe Durst!«, protestierte er und versuchte erneut nach der Flasche zu greifen.

 

»Lass es gut sein.« David packte ihn behutsam am Arm und zerrte ihn in den Flur. »Oben gibt es bestimmt ein Bad. Da können wir ja einen Schluck Leitungswasser trinken.« Er spürte, dass es besser war, seinen Onkel jetzt alleine zu lassen. So wütend wie gerade eben, hatte er ihn noch nie erlebt.


Widerwillig stampfte Patrick die Treppe hinauf. David folgte ihm. Ihr zukünftiges Zimmer glich einer Abstellkammer. Überall lagen alte Zeitschriften, Baumaterialien und alte Kleidungsstücke herum. Auf den einzigen freien Platz hatte jemand eine Matratze auf den Fußboden gelegt. Eine Decke oder ein Kopfkissen waren nirgends zu finden.

 

»Glaubst du, Mama hat gewusst, wie es hier aussieht?«, fragte David traurig.

 

»Bestimmt nicht!«, antwortete Patrick wütend und trat gegen einen Stapel Zeitschriften, der sich daraufhin über den Boden verteilte.

 

»Was sollen wir denn jetzt nur machen?«, schluchzte David verzweifelt. Der Gedanke an seine Mutter machte ihn unendlich traurig und er konnte seine Tränen kaum zurückhalten.

 

»Fang jetzt bloß nicht an zu heulen. Wir versuchen jetzt erst mal zu schlafen. Morgen sehen wir dann weiter. Wir kriegen das schon irgendwie hin. Das verspreche ich dir!«


Kaufen bei...